Faust gehört ins Glockenspiel

Ein Osterspaziergang führt zu den Faust-Orten Münchens, an denen das Wirken von Goethes Klassiker noch spürbar ist Der Germanist Michael Weiser und die Theaterwissenschaftlerin Anette Spieldiener entwickeln dabei auch eigene Hypothesen

VON SARA MARIA BEHBEHANI

Presseartikel

Süddeutsche Zeitung

Landkreise

Kultur

31. März 2018

Laut läuten die Kirchenglocken durch die schmalen Gassen. Sie schallen über die großen Plätze der Münchner Innenstadt, durch die versteckten Hinterhöfe. Immer wieder unterbrechen sie Michael Weiser, der gerade mit einer Gruppe von Zuhörern am Rindermarkt steht. „Die Stadt ist eben unsere Bühne. Da kann man nichts machen“, sagt er lachend und fügt hinzu: „Faust haben die Kirchenglocken immerhin gerettet.“ Und dann beginnt er zu deklamieren, denn Weiser gehört zu den Menschen, die „Faust“ auswendig gelernt haben. „Auf furchtbar langweiligen Busfahrten“, wie er sagt.

An diesem Märztag jedoch unternimmt Michael Weiser einen Osterspaziergang, wie er im Buche steht. In diesem Fall im Buche „Faust“, dem wohl bekanntesten aller Werke von Johann-Wolfgang von Goethe. Weiser ist Germanist, und gemeinsam mit der Theaterwissenschaftlerin Anette Spieldiener führt er an diesem Nachmittag durch München – und durch Goethes Drama. Die beiden Stadtführer gestalten im Rahmen des Faustfestivals den Spaziergang „Faust in allen Gassen! Ein Drama bewegt und vernetzt München“. Faust haben sie tatsächlich in allen Gassen aufgetrieben. Doch davon auszugehen, dass sie einfach nur eine normale Führung durch eine Stadt absolvieren und hier und da einen Faust-Bezug herstellen, obwohl Faust mit München bekanntlich doch gar nichts zu tun hat, würde den beiden nicht gerecht. Nicht nur untermalen sie die Faust-Orte, zu denen sie führen, immer wieder mit Bildmaterial, sie bleiben auch hier und da stehen und verpassen den informativen Inhalten performative Einlagen.

Da trifft es sich gut, dass Michael Weiser die passende Stelle zum Klang der Glocken parat hat, der Faust das Leben rettet: „Welch tiefes Summen, welch heller Ton / Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde? / Verkündigt ihr dumpfen Glocken schon / Des Osterfestes Feierstunde?“ Das Tönen der Kirchenglocken, das christliche Fest, die Feier der Auferstehung Jesu‘ bringen Faust dazu, den Gifttrank, den er schon zum Munde gehoben hatte, wieder zu senken. Nicht zu wissen, „was die Welt / Im Innersten zusammenhält“, bedeutet für ihn jedoch die größte Verzweiflung. Und auch wenn er sich zunächst seinerseits zu einem Osterspaziergang aufmacht, geht er im Folgenden doch einen Pakt mit dem Teufel Mephistopheles ein: „Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde geh’n.“

Einige der Spaziergänger, die sich aufgemacht haben, um Faust in München zu entdecken, scheinen das Werk ebenso auswendig zu kennen wie Michael Weiser, sprechen sie die von ihm zitierten Stellen doch fleißig mit. Als er und Anette Spieldiener von der Idee des Faustfestivals hörten, begannen sie eine aufwendige Recherche und machten sich auf die Suche nach den „faustischen“ Seiten Münchens. „Ich recherchierte, welche Künstler und Autoren sich in München wo und in welcher Form mit dem Faust-Thema auseinandersetzten“, erklärt Spieldiener.

„Und siehe da: Ein buntes Kaleidoskop ergab sich. Denn Faust war und ist in München allgegenwärtig.“ Von ihren Ergebnissen waren sie zum Teil selbst überrascht. „Bei der Vorbereitung haben wir Dinge gefunden, die wir selbst nicht erwartet haben“, sagt Michael Weiser. „Neue Erkenntnisse, bei denen wir dachten: Das ist ja der Hammer!“

Ein solcher Hammer verbirgt sich für die beiden im Glockenspiel am Marienplatz, das an eine Hochzeit erinnert, die sich just in diesem Jahr zum 450. Mal jährt. Ein Ort, an dem man, wie Weiser sagt, ihn und Anette Spieldiener eigentlich nie antreffen würde. Doch für Faust machen sie eine Ausnahme. Denn Faust ist, wie in dem Volksbuch „Historia von D. Johann Fausten“ des Buchdruckers Johann Spies beschrieben, auf dieser Hochzeit zwischen dem bayerischen Erbprinz Wilhelm V. und Renata von Lothringen gewesen. „Es ist die literarische Faust-Figur, die mit der Münchner Hochzeit verknüpft werden kann“, sagt Spieldiener. „Der historische Faust starb spätestens 1539. Nach seinem Tod setzte jedoch eine rege Legendenbildung ein, auch noch in den 1560er Jahren. Das Volksbuch ist genau davon ein literarisches Zeugnis.“

Die Theaterwissenschaftlerin hat ihre eigene Hypothese aufgestellt, warum es sich bei der von Spies beschriebenen Hochzeit tatsächlich um die des Glockenspiels handeln muss: „Im Ausschlussverfahren bleibt nur die Münchner Hochzeit Wilhelms V. mit Renata von Lothringen als historisches Ereignis möglich“, erklärt sie. „Das Erzählen und Niederschreiben einzelner Zaubergeschichten, die Faust aufgeführt haben soll, lässt sich in der zweiten Hälfte der 1560er Jahre beobachten. Also exakt in dem Zeitraum, in welchem die Hochzeit von Wilhelm V. und Renata von Lothringen stattfand.“

Die Hochzeit ist eines der größten Feste in der Geschichte Münchens. 18 Tage lang ließ sich das Brautpaar 1568 feiern. Die herzogliche Hochzeit, die bei Spies Erwähnung findet, könne daher, wie Spieldiener sagt, auch als erinnerungskultureller Beitrag gelesen werden. Bis heute steht sie im Zentrum des Rathausglockenspiels. Doch nun sieht es so aus, als würde ein prominenter Gast ihnen doch noch die Schau stehlen. „Faust war bei dieser Hochzeit mit dabei“, ruft Weiser aus. „Ist das nicht eine Sensation?! Faust war in München! Faust gehört ins Glockenspiel!“ Mit dieser Entdeckung feiert das Glockenspiel dieses Jahr also nicht nur Hochzeitsjubiläum, sondern lüftet auch ein bis heute gut gehütetes Geheimnis. Wenn sich zur richtigen Stunde am Marienplatz die Schaulustigen einfinden und sich die Figuren des Glockenspiels munter drehen, dann fehlt dort einer: Johann Georg Faust.

Die Leidenschaft merkt man Michael Weiser und Anette Spieldiener während ihrer gesamten Führung an. „Faust hat eben schon etwas mit München zu tun“, sagt Spieldiener. „Allein schon aufgrund des kulturellen Status’ Münchens als einer Hochburg der Faustrezeption.“ Das aufzuzeigen, haben sich Spieldiener und Weiser in den zwei Stunden, in denen sie durch die Innenstadt führen, zum Ziel gemacht. Die Route führt durch die Altstadt zu Orten, wo Autoren, Künstler, Theatermacher, Karikaturisten, Volkssänger und Philosophen Goethes Faust auf ganz unterschiedliche Arten rezipierten. „Faust hat das Münchner Leben mitgelebt und geprägt“, sagt Weiser. „Faust war immer wieder in aller Munde und Teil des Lebens hier.“

Durch den Reichtum an verschiedensten Inhalten, kann „Faust“ mit ebenso verschiedenen Lebensbereichen verbunden werden. So auch mit dem Hofbräuhaus, von dem der Zeichner, Musiker und Schriftsteller Franz Graf von Pocci in seinem Werk „Der Staatshämorrhoidarius“ im Jahr 1859 eine Zeichnung anfertigte, die nicht nur an den Leipziger Auerbachs Keller erinnert, in dem Mephisto Faust zunächst vom einfachen, trunkenen Glück überzeugen will. Auch das unter das Bild gesetzte Zitat ist „Faust“ entnommen: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Eine Bildunterschrift, die unter dem Hofbräuhaus für sich selbst spricht. „Faust ist eben wie das Bier“, sagt Weiser. „Er verbindet die Menschen durch alle Schichten miteinander.“

Weiter geht es zu Orten, an denen der historische Pulsschlag dieser Stadt noch spürbar ist, an denen sich Künstler mit Faust auseinandergesetzt, ihm Schauspiel, Roman, Gemälde oder Lied gewidmet haben. Da dürfen auch die Kammerspiele nicht fehlen, gab es dort doch immer wieder berühmte Faust-Inszenierungen. Eine der aufsehenerregendsten Uraufführungen war 1912 die von Frank Wedekinds Stück „Franziska“. Franziska, von Wedekinds Frau Tilly gespielt, sollte einen weiblichen Faust darstellen. Die „Fäustin“ steht für mehr Bewegungsfreiheit von Frauen und will erleben dürfen, was ein Mann ganz selbstverständlich erleben darf. Der Pakt, den sie mit dem Teufel, in ihrem Fall mit Veit Kunz, den Wedekind selbst spielte, eingeht, besteht darin, dass sie zwei Jahre als Mann leben darf, wenn sie am Ende ihm gehört. „Das zeigt, dass ‚Faust‘ mehr als ein Theaterstück ist“, sagt Weiser. „Er zeigt ein modernes Bedürfnis nach Emanzipation, das vor der Öffentlichkeit artikuliert werden kann.“

Und auch König Ludwig II. war wohl begeistert von Goethes Werk, stellte er doch eine Marmorgruppe „Faust und Gretchen“ in seinem königlichen Wintergarten auf. Diese Erkenntnis versetzt Michael Weiser in Begeisterung. „In einer einzigen Quelle stieß ich auf die Beschreibung einer Faust-und-Gretchen Gruppe aus Marmor.“ Es ist das Buch „König Ludwig II. Sein Leben, Wirken und Tod“ des Journalisten George Morin, der die Statue des italienischen Bildhauers Antonio Tandardini im Garten Ludwigs II. erwähnt. Mit seinem Freund Jean Schlim, einem Ludwig-Kenner, machte sich Weiser auf die Suche nach der verschollenen Statue. In nahezu kriminologischer Genauigkeit durchforsteten sie sämtliche Quellen nach dem Verbleib der Marmorgruppe. Bisher herausfinden konnten sie, dass die Statue bei der 1. Internationalen Kunstausstellung in München von Ludwig erworben wurde. Alles weitere muss sich noch zeigen.

Wer sich an diesem Wochenende nun selbst zu einem Osterspaziergang aufmachen möchte, der kann mit Anette Spieldiener und Michael Weiser oder aber auch auf eigene Faust losziehen, um die Spuren zu entdecken, die Goethe mit seinem Werk in München hineingegraben hat. Man muss nur den Kirchenglocken folgen.

Faust in allen Gassen, Stadtführung mit Anette Spieldiener und Michael Weiser, Mo., 2. April, So., 22. April u.a., 15 Uhr, Treffpunkt: Karl-Valentin-Brunnen, Viktualienmarkt,
☏96 97 72 47

Faust-Festival

Nach dem Tod des historischen
Faust, spätestens 1539, setzte
eine rege Legendenbildung ein.

König Ludwig II. stellte eine
Marmorgruppe „Gretchen und
Faust“ im Wintergarten auf.

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